AW: Warum ist sexuelle Treue so wichtig?
Ich kann hier nur für mich sprechen und möchte es auch so verstanden wissen, als meine Sicht die ich niemandem auferlegen will.
Ich sehe Untreue nicht auf das körperliche beschränkt oder anders formuliert ist für mich Untreue nicht zwangsläufig mit einem vollzogenen Geschlechtsakt verbunden. Untreue beginnt für mich im Kopf. Wenn ich bei einem Partner bleibe, auch wenn ich weiß dass ich ihn nicht mehr liebe aber es vermeintlich bequemer ist alles so zu belassen wie es ist, ist das für mich genauso Untreue. Die ich fast noch schlimmer sehe als die reine sexuelle Untreue. Denn in dem Moment gaukele ich dem anderen etwas vor, dass nicht (mehr) existiert und wähne ihn in einer Sicherheit, die ich ihm nüchtern betrachtet nicht mehr gebe. Werde ich unaufrichtig und unehrlich meinem Partner gegenüber, dann bin ich ihm untreu - das kann die emotionale aber auch die körperliche Ebene sein.
Was ist mit Menschen, die vielleicht keinen klassischen Sex haben können (Behinderung, Trauma oder sowas), soll deren Partner auf Sex verzichten oder darf er sich die sexuelle Befriedigung bei einem anderen Menschen holen? Könnte ich verlangen, dass in einer solchen Situation ein Mensch für u.U. den Rest seines Lebens auf seine Sexualität zu meinen Gunsten verzichten muss? Ich würde eine solche Hürde, glaube ich zumindest, nicht aufstellen wollen sondern meinem Partner diese "aushäusige" Sexualität zugestehen. Wer wäre ich zu verlangen, dass der andere einen Teil seiner Selbst aufgibt, nur weil ich ihm diese Art der Körperlichkeit, nicht geben kann, uns aber doch so viel mehr verbindet und es eine andere Weise der Intimität und Nähe gibt, man als Paar zusammen sein will?
Was, wenn ich wüsste mein Partner möchte sich ab und an einen bestimmten Kick holen / Phantasie ausleben - weil er es mir sagt - das für mich aber eine Grenzüberschreitung darstellt? Ich glaube, ich könnte nie um meines Partner willen bei Sexualpraktiken mitmachen (auch mit dem Herzen!) wenn sie mir zuwider sind, ich dabei Ekel empfinde, das käme für mich einer Vergewaltigung gleich und wäre mitnichten ein Liebesbeweis im Sinne von "ich will es absolut nicht, aber dir zuliebe tue ich es". Da gilt für mich, erlaubt ist alles solange bis einer von beiden Stopp sagt. Ich würde aber auch nicht riskieren wollen, dass ich in der Beschneidung des anderen in diesen Gedanken Gefahr laufe, unsere Beziehung in ihrer Gesamtheit zu verlieren, sondern diese Ausflüge in "die andere Welt" zulassen könnte. Was wäre der größere Liebesbeweis: dem anderen auch diese Seite zu erlauben, wenn auch nicht mit einem selber oder aber zu verlangen, der andere muss sich zurück nehmen, sich einschränken und kasteien?
Aber das sind auch nur Gedanken, wie es in der Realität aussieht weiß ich nicht, weil ich diese Situation(en) nie erlebt habe (zumindest weiß ich nicht davon). Ich möchte das jetzt auch nicht als Freifahrtschein für die sogenannte sexuelle Untreue verstanden wissen, sondern als Gedanke dass auch hier gilt, ich kann meinem Partner das und das nicht geben, er holt es sich woanders, aber stellt unser beider Lebensfundament dadurch nicht in Frage und man geht ganz klar den Lebensweg gemeinsam nebeneinander. Eine Beziehung ist für mich durch so viel mehr getragen als durch die sexuelle Komponente, sie gehört ohne Frage mit dazu und ist sehr wichtig, aber sie ist in meinen eigenen Augen nicht das oberste K.O.Kriterium.
Per Definition ist "Sexualität" die körperliche Berührung eines anderen Menschen. Werde ich also sexuell untreu, wenn ich im Arm eines Mannes, der nicht mein Partner ist, sitze und mich nahe an ihn kuschele, ohne dass wir uns küssen würden oder gar noch mehr? Für mich: Nein. Wie ist es beim Tanzen, wenn sich eine intime Spannung aufbaut ohne dass es zum vollzogenen Akt käme? Für mich: ist toll und darf ich genießen. Darf ich in meinen Gedanken mir Sex mit einem anderen Mann vorstellen, ohne dass ich ihn in der Realität ausleben würde? Für mich: ja. Für mich ist es selbstverständlich, dass man auch wenn man in einer Beziehung ist andere Menschen anziehend findet und das auch dem Partner sagen darf (nicht muss, aber darf), ohne dass der andere sofort tobsuchtsartig Untreue oder den Wunsch danach unterstellt. Ich gehe nicht davon aus, dass ich den Partner so sehr verblende, dass er blind wird für den Rest der Welt, das wäre eher furchtbar. Für mich ist es statthaft und erlaubt, auch in einer bestehenden Partnerschaft mit einem anderen Menschen zu flirten, solange die durch beide Partner gesetzten und bekannten Grenzen nicht überschritten werden. Vielleicht kann es den Partner sogar stolz machen zu wissen, dass man noch für andere begehrenswert sein könnte aber der Partner das große Los gezogen hat und weiterhin "The one and only" ist?
Ich bin bisher nie in meinem Leben in der Situation gewesen, dass ich meinem Partner sexuell untreu gewesen bin oder hätte sein wollen, ich bin dennoch sehr vorsichtig mit einer Aussage "könnte ich nie". Ich wurde körperlich betrogen, und ich habe verzeihen können, auch wenn ich das vorher kategorisch ausgeschlossen hatte bis ich es selber erlebt habe. Und schauen wir uns doch unseren Bundespräsidenten an: auf dem Papier noch verheiratet, aber hat eine Lebensgefährtin die der Deutschen sogenannte First Lady ist. Wird er dadurch weniger ernst genommen oder gar an den Pranger gestellt, wo er doch klassisch betrachtet untreu ist und im katholischen Sinne eine Todsünde begeht?
Ich denke, das Leben und die Menschheit ist viel zu facettenreich, um hier eine allgemein gültige Auffassung überhaupt aufstellen zu dürfen und dass ich persönlich eine monogame Beziehung als die einzig zulässige = gesellschaftlich anerkennte gelten lassen möchte. Welche Lebensform ich dabei selber auslebe bleibt mir und meinem Partner überlassen und ich glaube, das kann im Laufe des Lebens durchaus auch Änderungen unterworfen sein. Unabdingbar ist, dass beide sich bei dem Thema auf Augenhöhe begegnen und übereinstimmen, wenn es unterschiedliche Sichtweisen gibt wird es schwierig bis unmöglich. Kann ich lieben, ohne mit diesem Menschen Sex zu haben? Ja, kann ich. Kann ich Sex mit einem Menschen haben, ohne ihn zu lieben? Ja, kann ich. Beides zusammen zur gleichen Zeit zu haben ist - auch für mich - mein Wunsch und mein Bestreben. Ist mir sexuelle Treue wichtig? Ja, ist sie, ohne dass ich ausschließen kann mit eben jener Untreue leben zu können, wenn die Umstände so wären. Ich kann einen Menschen nicht besitzen, sondern wir bekommen gemeinsame Zeit geschenkt - diese will ich auskosten und genießen und gestalten, weil so unendlich kostbar und unbezahlbar.
Einen schönen Sonntag noch!