Schau malI, SeTi, ich hab doch was ganz anderes geschrieben als du mir zuschreibst. Ich denke, das Thema verdient, feiner vorzugehen und weniger generalisierend. Ich habe überhaupt nicht geleugnet, was dir ein Anliegen ist: nämlich daß Selbsttötungen freie Entscheidungen sein können. Im Gegenteil habe ich das sogar betont. Ich kritisiere aber beide Generalisierungen: sowohl diejenige, jede Selbsttötung automatisch als Ausdruck einer Unfreiwilligkeit und psychiatrischen Störung zu betrachten, wie auch diejenige, jede Selbsttötung als Ausdruck souveränen freien Willens zu deuten. Es kommt enorm auf den Einzelfall an. Und mit den kruden Generalisierungen macht man es sich zu leicht, wenn sie als Ausrede dienen sollen, nicht auf den konkreten Fall zu schauen.
Daß du persönlich jedem böse wärest, der dich von dem abgehalten hätte, wozu du dich entschieden hast, mag ja sein. Das bedeutet aber nicht, daß jeder Suizidgefährdete im nachhinein jedem böse wäre, der ihn vom gelingen seines Versuchs abgehalten hätte. Sollte die Empfehlung sein, in jedem Fall jeden gewähren zu lassen, der sich selbst töten will, halte ich sie für äußerst problematisch.
Einen feineren Umgang hatte ich auch bezüglich der Rede von Verantwortung vorgeschlagen. Verantwortung ist etwas anderes als Schuld. Verantwortung wird nicht aufs Auge gedrückt. Verantwortlichkeit spürt man. Also im besseren Falle, wenn man sein Verantwortungsgefühl nicht korrumpiert hat.
Mein Mitgefühl gilt jedem, der bezüglich des Suizids eines Nahestehenden nicht einfach sagt: geht mich doch nichts an, ist doch dessen Verantwortung. Ich kenne es auch als normal, daß sich Nahestehende Schuldgefühle machen. Ich finde es in vielen Fällen richtig zu betonen, daß sie das nicht tun müssen. Aber ich möchte ernst nehmen, daß sie es tun. Ich deute dies als Ausdruck davon, daß sie Verantwortlichkeit spüren. Und dieses Gespür möchte ich ihnen nicht ausreden. Aber empfehlen, es von unagnemessenen Schuldgefühlen zu unterscheiden.
Jegliches Gefühl von Verantwortlichkeit füreinander zu leugnen, hieße das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ich weiß, es steht hoch im Kurs: jeder ist seines Glückes Schmied, und auch seines Unglückes. Das ist neoliberaler Mainstream, wird gerne so geplappert. Und, die übliche gespaltene Zunge, zugleich beklagt, der Individualismus des modernen Menschen, die Vereinzelung, die Kälte, die fehlende Solidarität, der fehlende Gemeinschaftssinn usw.
Ich halte eitle Theorien, die Freiheit entweder völlig leugnen oder zur Totalität aufbauschen, für gleichermaßen unzutreffend und schädlich. Man sollte doch ein wenig genauer hinschauen. Die Leute haben in der Regel Freiheit, also diverse Freiheiten, aber die sind eben auch nicht total und im luftleeren Raum. Nicht jede Aktion ist im gleichen Maße frei und selbstbestimmt. Das kennt doch jeder eigentlich an sich selbst, bei einer ganzen Reihe weniger drastischer Handlungen als der eines Suizidversuchs. Damit behaupte ich nicht, daß man in all diesen Fällen übergriffig sein und dem anderen über die Finger fahren soll, wenn er imstande ist, etwas zu tun, von dem man glaubt, daß er damit im Moment nicht ganz er selbst ist. Aber ich bin dafür, es sich nicht einfach zu machen und seine Hände in Unverantwortlichkeit zu waschen und sich mit einem Gemeinplatz wie "Das ist doch allein seine Entscheidung!" aus der Affäre zu ziehen.
Man hängt mit drinnen. Selbst wenn man keine gute Lösung hat. Das ist eben Merkmal von dilemmatischen Situation. Ich schlage vor, sie anzuerkennen als sie zu leugnen und durch krude simplifizierende Glaubenssätze zu ersetzen.
Hier im Forum begegnet mir überaus mangelnde Fähigkeit, eine unklare, unsichere Situation auszuhalten. Auch hier wieder. Je simpler der Ratschlag, desto überzeugter wird er vorgebracht, als völlig selbstverständlich und alternativlos. Liebe Leute, akzeptiert doch mal, daß es schwierige Situationen gibt, für die nicht gleich völlig eindeutig klar ist, was zu tun ist. Und das gilt eben vielleicht besonders für solche Fälle wie hier diskutiert: was Nahestehende im Falle einer Suizidalität tun können und sollen. Möglich, daß das jemanden auch noch Jahre beschäftigt, er sich nie hundertprozentig sicher sein wird, das richtige getan zu haben. Vielleicht nimmt das immer weniger Grübelzeit ein, aber bleibt doch als kleiner Stachel, als Ungewißheit. Ich möchte diese Gedanken niemandem einreden.
Aber eben auch niemandem ausreden.
Sorry, wenn ich damit gegen ein Gesetz des Forums verstoßen sollte, in dem ja Ausreden ganz groß geschrieben wird.